Starkart Urban Art Exhibitions

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Parsen aus der Urban Art Wundertüte

C215 Stencil on the Street in Zürich

Anmerkung: Eine Version dieses Essays von Christian Guemy aka C215 wurde vor kurzem in Französisch mit Rue89 und auf Vandalog in Englisch veröffentlicht, aber wir es beide für wichtig befunden, auch eine Version in Deutsch zu veröffentlichen. – Roman Leu

Seit einiger Zeit, und besonders seit der englische Künstler Banksy weltweiten Erfolg genießt, vergeht kaum eine Woche ohne dass die Medien etwas über Urban Art berichten, egal ob es um eine Galerie mit “Street Art”, Auktionen von “Graffitis” oder der Einrichtung eines “Open Air Museums” geht, oder einfach um die simple Unterdrückung von Vandalismus.

Es ist offensichtlich, dass Urban Art den Höhepunkt der Aufmerksamkeit und Popularität in der Öffentlichkeit und den Medien erreicht hat. Und doch bin ich überrascht von der fehlenden Abgrenzung zwischen den verschiedenen Praktiken, die zusammen die urbane Kunst bilden. Die Re-klassifizierung unter dem gigantischen und doch plumpen Begriff “Streetart” verwirrt mehr als sie klarstellt.

Ich bin 40 und seit 1984, als Sydney in Frankreich seine Kult-Fernsehsendung “H.I.P. H.O.P.” präsentierte, eng mit Urban Art verbunden. 1989 traute ich mich zum ersten Mal an Graffiti ran und verfolge seitdem den Fortschritt dieser Kunstrichtung. Es scheint, dass seit dem mehrere “Generationen” vergangen sind, von der jede verschiedene Ambitionen und Methoden hatte, die alle besondere Ehrung verdienen.

Die Pioniere von Graffiti

Graffiti hat schon immer existiert. Es ist ein anthropologisches Phänomen. Jeder von uns hat in der Kindheit schon den eigenen Namen in einen Baumstamm geritzt, oder auf dem Tisch in der Klasse herumgemalt, oder eine sarkastische Nachricht auf der Toilette in der Schule hinterlassen.

Der französische Fotograf Brassai war in den 1930ern der erste, der sich für diese Art von Inschriften interessierte, die bis in die Antike zurückreicht. Das Kolosseum selbst war voll mit vielerlei Zeichen und Inschriften die von unbekannten Menschen hinterlassen wurden. Die Graffitis meiner Kindheit waren meist Namenszüge, Liebesgeschichten, politische Aussagen, irgendwas mit Sport, Witze oder Poesie.

Das auftauchen der Sprühdose in den 1960ern bot später der desillusionierten Jugend der 70er und 80er, ein besonders effektives Werkzeug zum Hinterlassen von Schriften auf öffentlichen Wänden in den Straßen, die bis dann nicht als künstlerische Leinwand betrachtet wurden, abgesehen von Werbung.

Diese technologische Innovation – die Sprühdose – die ihren Zauber einer Bewegung namens “Graffiti” verdankt, ist in Amerika von der “Hip-Hop” Kultur, in Europa aber eher von der “Punk Rock”-Bewegung dominiert.

Die romantische Essenz von Graffiti

Diese Generation erfand die Codes einer neugeborenen, urbanen Kultur, die etwa ebenso viel Einfluss auf die visuelle Kultur des Westens hat, wie Rock’n’Roll auf die Musik der vorhergehenden Dekaden.

Graffiti entspringt einer romantischen Essenz. Selbstlose und glückliche Anarchisten, die als erste eine Sprühdose für Graffitis verwendeten, erfanden eine völlig andere Kultur.
Die wahrgenommene Qualität ihrer Interventionen hing vor allem von der Courage ab, verbunden mit der Leistung während des Gesetzesübertritts; der Provokation im öffentlichen Raum und der Finesse ihrer Kaligraphie die zu den extremen der Chiffrierung gepusht wurde.

Ihr Ziel war, ihre Kollegen zu beeindrucken und die Mainstream-Gesellschaft zu provozieren und zu verärgern. Der Sippenzwang trieb sie dazu sich mutwillig des öffentlichen Raums zu bevollmächtigen. Dies stellte eine Art Antwort auf die zügellose Urbanisierung und die sich rasch ändernde Gesellschaft dar, aus der sie sich ausgeschlossen fühlten.

Ihre Erkennungsmerkmal bestanden aus wiederholten Platzierungen ihrer Pseudonyme, die nur von Eingeweihten entschlüsselt werden konnten, dadurch zogen sie weiter die Abscheu des Rests der Gesellschaft auf sich.

Diese erste Generation beabsichtigte nie, mit der Ausnahme ganz Weniger, ein Geschäft daraus zu machen, oder Kunst als Karriere zu betreiben. Es war streng beschränkt auf soziale Wettbewerbe und physisch-künstlerische Leistungen. Sie griffen ohne Autorisierung ein, aus “Schönheit der Geste”, ohne sich Sorgen über soziale Anerkennung zu machen – im Gegenteil: Sie sind/waren anonym.

Es war ein Lebensstil für eine desillusionierte Generation, die sich den öffentlichen Raum zurückerobern wollte und den Begriff des Privateigentums anfocht. Die Öffentlichkeit und die Behörden verurteilten die Kunst dieser ersten Graffiti-Generation aufgrund des Schadens am Besitz anderer und der Entwertung öffentlichen Guts, schnell als “Vandalismus”.

Am Ende der 1990er folgte in Europa eine schwere Welle der Unterdrückung zusammen mit einer allgemeinen Ablehnung dieser Form künstlerischen Ausdrucks. Die französische Legende Oclock sagte einmal zu mir: “Sollte eines Tages das Taggen erlaubt sein, höre ich auf.” Eine perfekte Theorie des Vandalismus.

Das Internet und die “Streetart”-Generation

Um das Jahr 2000 herum tauchten eine Reihe von technologischen Innovationen auf, die Künstlern neue Bereiche eröffneten. Zuerst der Computer und das “Home Office”, dann eine weitere große Innovation: das Internet, das eine radikale Transformierung der globalen Medien einleitete.

Das Internet bildete praktisch eine offene Fläche für junge Künstler, eine “Hypermedialisierung”, die die Möglichkeit zum Kurzschließen der gewöhnlichen Kunstmediatoren bot – Journalisten, Kritiker, Kuratoren und Galeriebesitzer – indem dieser neue “Nicht-Ort” der Kunst, das Internet, besetzt wird.

Daher sind junge Menschen seit 2000 in einer Kultur der Graffitis aufgewachsen, deren Codes sie perfekt beherrschen. Viele von ihnen träumten davon Künstler zu werden und diejenigen, die in grafischen Kunstschulen ausgebildet wurden, wurden von der Ästhetik der Graffitis so sehr geschwängert, dass die grafischen Künstler dieser Generation diese Codes in ihre Arbeit haben einfliessen lassen.

Ihr Anspruch professionelle Künstler zu werden, führte sie sehr schnell zu einer Zweckentfremdung (um nicht zu sagen klauen) der Graffiti-Codes, um sie zu kommerzialisieren.

Meisterkünstler des viralen Marketings

Diese neue Professionalität drängte junge Künstler von der Graffiti-Kultur in das Marketing; die Annahme einer freiwilligen Selbstzensur, um maximal vielen Menschen etwas verkaufen zu können. Sie mussten die Bewegung popularisieren. Und zwar hauptsächlich im Internet. Der Background und die Stile von “Streetart” wurden nun durch die Nachfrage des Internets und seiner neuen art der kulturellen Verbreitung gesteuert: Feeds sozialer Netzwerke.

Die neuen Künstler der Straßen liehen sich die Formen des Graffiti und transformierten sie mit der Idee, dass ihre Werke im Internet verteilt werden würden – durch ihre eigenen Seiten, durch spezialisierte Blogs und schlussendlich durch die Öffentlichkeit selbst innerhalb von sozialen Netzwerken.

Angefangen mit Banksy, sind mittlerweile viele von ihnen Meister des viralen Marketings und Medienmanipulation geworden, auf dieser neuen Plattform Internet.

Die Absicht war nicht mehr länger die Schockierung der Öffentlichkeit, oder diese unbefriedigt zurückzulassen. Jetzt wurde die Öffentlichkeit zum Teilnehmer gemacht, indem ihr Ego geschmeichelt wurde, beispielsweise JR mit seinem Projekt “Inside Out”, oder Banksy und seine “selfie” Straßenausstellung.

Die Straßenkunst, die jeder fotografieren und auf persönlichen Webseiten teilen kann, begann die Feeds der sozialen Netzwerke zu nähren. Unzählige Amateure fotografieren Straßenkunst und teilen sie online mit der Illusion, an dieser augenscheinlich befreienden Bewegung teilzunehmen. Tatsächlich machen sie Werbung für die Künstler.

Jeder hält sich für einen Künstler

Die größten Amateure fingen sogar an sich selbst wie Künstler zu fühlen und signierten ihre Fotos von “Straßenkunst”, fügten Wasserzeichen ein und verwalteten ihre “Streetart”-Blogs, -Bücher -Kataloge und -Kalender. Um eine Analogie zu populärer Musik zu schaffen, oder sogenannter “Vielfalt”: Die Illusion dieser fanatischen Masse gleicht der des Karaokes – jeder hält sich auf eine Art für einen Künstler, sogar die am Ende der Kette.

Um den Marktplatz und die Gunst der Öffentlichkeit erobern zu können, musste diese Generation das Konzept von Graffiti auf den Kopf stellen. Während Graffitis missfallen sollten, strebten aufkeimende Straßenkünstler danach, so vielen Menschen wie irgend möglich zu gefallen.

Während die Künstler der Graffitis-Szene maskiert blieben, schritten die neuen “Streetart”-Szene offen voran, und trugen nur die Fassade einer Anonymität. Die Graffiti-Generation genoss ihre Unbeliebtheit und die “Streetart”-Generation feierte ihren Ruhm.

Die Graffiti-Künstler zielten darauf ab, den städtischen Raum zu entwerten, während Straßenkünstler danach strebten dessen Wert zu steigern und dadurch an der Gentrifizierung der beliebten Nachbarschaften teilnahmen, in denen sie operierten. Und während die Graffiti-Generation keine kommerziellen Ziele verfolgte, drängten die Straßenkünstler zur Kommerzialisierung und buhlten um Museumsausstellungen und die unterschiedlichsten Ehrungen. Ich bin durch meine weitreichende Akkreditierung in Frankreich, bedauerlicherweise selbst ein Beispiel dieser Gesinnung.

Während also die Erscheinung von Graffitis beibehalten wurde, wurde das Graffiti selbst, Stück für Stück, durch die Kompromisse, die mit dem System gemacht wurden, transformiert. Dennoch wurde die romantische Erscheinung beibehalten: Der Dresscode, die Werkzeuge, die Grafiken, die Provokationsbehauptung und das Risiko der Illegalität wurden zur Wahrung des Äußeren beibehalten und doch kommerziell genutzt. Die Bedeutung wurde im Drang nach maximaler, kollektiver Zustimmung aufgegeben.

Mit dem Anspruch, formale Inhalte in Graffitis einbringen zu wollen, wurde der Einfluss so sehr gemindert, dass angebliche politische Aussagen der “Streeart”-Generation schon bald auf beanstandungsfreie, wenn nicht sogar demagogische Inhalte beschränkt wurden.

Mit ihrer gestellten Respektlosigkeit ist diese Generation von Künstlern so sehr mit dem System – das sie angeblich kritisieren – verwachsen, dass sie manchmal miteinander verwechselt werden. Die Akteure der “Graffiti”-Szene lassen sich nicht täuschen und verabscheuen die “Streetart”, die sie als verdorbene Kommerzialisierung ihrer Tätigkeiten betrachten; und das mit Recht.

Eines darf nicht missverstanden werden: Streetart ist ein Ersatz für Graffiti, und ihr Ziel ist bloße Verkaufsförderung. Kapp gesagt: Streetart ist im Vergleich zu Graffiti, was Michael Jackson zu den Black Panthers ist. Who’s bad?

Der Anbruch des “Muralismus”

Seit etwa 2010 kann gesagt werden, dass das Ziel der Popularisierung der Streetart-Bewegung und der Professionalität ihrer Akteure erreicht wurde, besonders in Europa.

Die Kommerzialisierung ist in vollem Gang und der neue Bedarf für Profitabilität unter kulturellen Institutionen hat viele dazu gebracht, in die neue Goldmine “Streetart” zu investieren, selbstverständlich ohne zu versuchen, sie zu verstehen oder zu erklären. Sie trachten bloß danach, sie als Rohstoff wie alle anderen handeln zu können… alle Rohstoffe sind auf gewisse Weise gleich.

Und so erleben wir regelmäßig Auktionen und Galerien mit “Streetart” die überall auftauchen, obwohl “Straßenkunst” nur wirklich auf der Straße existieren kann und “Graffiti” kein kommerzielles Produkt ist.

Die Mediatoren kehren zurück

All das hat für die Hauptakteure im Markt keinerlei Bedeutung: die Galeriebesitzer, Sammler, Publizisten oder gar die Medien. Es wurde eine Wirtschaft geschaffen, die sehr eng mit der Unterhaltungsindustrie und deren Machenschaften verbunden ist, obwohl sie ursprünglich aus der Graffiti-Szene oder “Straßenkunst” stammt, nun die Spielregeln der Wirtschaft akzeptiert und spießbürgerliche Wohnzimmer ziert. Sammler wollen zu jedem Preis “Graffitis” oder “Streetart” kaufen und Künstler verkaufen ihnen daher etwas, das wie “Streetart” oder “Graffiti” aussieht. Kritiker, Galeristen, Blogger und Künstler sind heutzutage sehr gute Freunde.

Provokation wird heute nur noch geheuchelt. Die Medien berichten über diese Straßenkunstveranstaltungen “Streetart Events” wie sie früher über ein Konzert oder einen neuen Film berichtet haben. Unterhaltungsgesellschaft.

“Graffiti” und “Streetart” sind Berufe wie andere geworden. Anerkannt bis hin zum Punkt, an dem sie in bestimmten europäischen Kunstschulen “gelehrt” werden.

Eine Gruppe von Institutionen, Gemeinden, Sponsoren, Galerien und kommerziellen Läden bieten nun die Aussicht darauf, damit einen respektablen Verdienst haben zu können. De Festivals blühen und bieten einer völlig neuen Generation von Künstlern Oberflächen auf denen sie sich ausdrücken können und die am Anfang weder die Künstler der Graffiti-Generation, noch die der Streetart-generation kannten. Davon konnten sie nur träumen.

Auftrags-Wandbilder

Auftrags-Wandbilder bringen eine kollektive Zensur mit sich. Das Projekt muss im Vorfeld untersucht werden, es muss politisch korrekt in die Nachbarschaft passen und sich dort der lokalen, politischen Zensur unterwerfen. Dies brachte ein neues Genre hervor: “Muralismus”.

Hauptsächlich beinhaltet es großflächige Wandbilder, die während Festivals fertiggestellt werden, welche von Gemeinden organisiert werden. Diese werden von gewöhnlichen Wandmalern gemalt, die immer unter Kontrolle und einer Autorität arbeiten. Diese Festivals bieten keine Möglichkeit zur Provokation oder echte Grenzüberschreitungen.

Die Schaffung dieser Bilder ist recht teuer – Sie beinhaltet das Leihen eines Krans und die Lebenskosten von fortwährend reisenden Künstlern. Und das hat die Rückkehr der Mediatoren nötig gemacht, die von den ersten zwei Generationen gemieden wurden.

Noch schlimmer ist, dass zur Finanzierung dieser bemalten Wände, Galeriebesitzer, Kuratoren und Sponsoren ein Comeback haben. Nicht nur die Freiheit der Meinungsäußerung, ist mit dieser neuen Semi-institutionellen Praktik, die als “Muralismus” bezeichnet werden kann, sondern auch die Unabhängigkeit der Künstler ist verschwunden.

Ich selbst bin von dem Hagel an rassistischen Beleidigungen, der mein letztes Portrait der französischen Justizministern Christiane Taubira traf, eine schwarze Frau, die die homosexuelle Ehe legalisierte, ermutigt worden, auch weiterhin eine offenkundig politische Einstellung zu haben.

Die Straßen sehen besser aus

Hier sind wir nun. Die Wände im öffentlichen Raum sind auf besonderen Wunsch hin permanent bemalt und jetzt kann hinterfragt werden, welche Rolle die Modernität in dieser Angelegenheit spielt. Es gibt sicherlich kein “zurück zum Alltag”, da mittlerweile unsere Nachbarschaften besser aussehen und angenehmer sind als der graue Beton meiner Kindheit.

Ich werde alt und möchte mich entspannen. Ich habe schon angefangen Bilder von kleinen Katzen zu malen. Diese Katzen sind Symbole für mich, sie repräsentieren, was aus Graffiti – ich meine Straßenkunst und Muralismus – und aus mir geworden ist, da ich meine Wurzeln im Vandalismus und politischen Graffiti habe, als ich noch ein Teenager war. Sie müssen wissen, dieses französische, subjektive Zeugnis hat nämlich selbstkritischen Wert: Es ist in gewisser Weise meine eigene Geschichte, genau so sehr wie es die Geschichte einer komplexen Bewegung beschreibt – eine Bewegung, die immer noch von den größten europäischen, zeitgenössischen Kunstmuseen gemieden wird. Man kann verstehen warum das so ist.

Ich für meinen Teil, werde diesen Text auf meiner Facebook-Seite veröffentlichen. Ich denke, dass es effektiver ist, wie gute alte Werbung verbreitet zu werden. Ich danke Ihnen, dass Sie bis zum Ende gelesen haben.

Nobody is perfect.

BY C215

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