Starkart Urban Art Exhibitions

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Gegenraum – Offspace – Heterotopie?

Symbolische Raumaneignung — Zeichen setzen mit Schablonen

Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts in Sozialwissenschaften
der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich
Gegenraum, Offspace oder Heterotopie?
Symbolische Raumaneignung — Zeichen setzen mit Schablonen
Referentin: PD Dr. phil. Dipl. Arch. ETH Gabriela Muri
Verfasserin: Catherine Eisendle
Institut für Populären Kulturen
05.11.2014

3. ZEICHEN SETZEN M SCHABLONEN: Historischer Kontext u zentrale Begriffe 16
4. RAUMTHEORIEN …………………………………………………………………22

4.1 Gegenraum, Offspace und Heterotopie (Foucault) ………………..22
4.2 Recodierung des Kreis 4 durch Schablonenkunst (Löw) …………29

5. STENCIL ART – ZEICHEN SETZEN MIT SCHABLONEN ……………….33

5.1 „Stencil Bastards 3“ in der Galerie STARKART ……………………33
5.2 Stadtspaziergang mit einem Stencil Bastard ……………………50
5.3 Interviewauswertung ………………………………………………..61
5.3.1 Raumaneignung …………………………………………………..63
5.3.2 Rezeptionsräume …………………………………………………..78
5.3.3 Subversivität und Sell-Out …………………………………………85

6. SCHLUSS UND AUSBLICK …………………………………………………..95
7. LITERATURVERZEICHNIS …………………………………………………..101
8. ABBILDUNGSVERZEICHNIS …………………………………………………106
9. ANHANG ………………………………………………………………………..108

Im 21. Jahrhundert sind die öffentlichen Räume urbaner Zentren unter anderem mit Markenlogos von grossen Firmen weltweit nahezu einheitlich markiert. Hinter jedem Markenlogo wirkt ein Bündel an emotional aufgeladenen Bedeutungskomplexen. Um das Jahr 2003 tauchten in der Flut kommerzieller Markierungen auf städtischen Oberflächen immer mehr Zeichen auf, die damals erstmals „Street Art“ genannt wurden. Street Art reibt sich an jenen codierten Zeichen, die unseren Alltag und unser Verhalten beeinflussen. Mittlerweile wurde Street Art jedoch selbst zu einer Marke. Das Etikett der antikonsumistischen „Street Art“ ist, dass sie ein Gegengewicht zur Raumaneignung von Marken zu setzten versucht.1

Heute zehn Jahre nach dieser Taufe, sind Realräume mit der unendlichen Weite von virtuellen Räumen erweitert worden und es tun sich neue Dimensionen dieser Kunstform auf. Im gegenwärtigen Lebensalltag ist Virtualität ein relativ neuartiges räumliches Phänomen, welches die Künstler als Spielraum für sich verwenden. Emotionen werden mit realen wie virtuellen Räumen verknüpft. Nicht nur das Bild im Stadtraum sondern auch die Abbildung vom Bild im virtuellen Datenraum ist mit Coolness und Vergnügen verbunden. Das Trendphänomen hinterlässt seine Spuren und erweitert die Verbreitung im virtuellen Raum. Die Bilder einzelner Street Art Künstler haben dadurch in den letzten zehn Jahren massiv an ökonomischen Wert gewonnen. Durch das Heraufladen unzähliger digitaler Bilder von Street Art Fans und Künstlern selbst, wird die Marke Street Art genährt. Ausserhalb der Strasse wissen jedoch auch Fotografen und Unternehmer das Internet als Ersatzraum für die Marke „Street Art“ für sich zu nutzen. Wird die konsumkritische Street Art selber zum Konsumgut? Welche Auswirkungen hat der ökonomische Wert auf die urbanen Kunstwerke? Erleben wir den Ausverkauf der Street Art?
1 Vgl. Klitzke et.al. 2006, 19.4

Herzlicher Dank geht an:
Gabriela Muri, die mich durch den gesamten Prozess dieser Arbeit begleitet hat und mich in raumtheoretischen Fragestellungen und dem Thema der Stadtwahrnehmung unterstützt hat.
Roman Leu für die wertvollen Einblicke in die kuratorische Arbeit in der Galerie STARKART und die Chance mit Künstlern der Ausstellung „Stencil Bastards 3“ Interviews zu führen.
C215, Epsylon Point, L.E.T, Hutch und Martin Whatson für ihre Bereitschaft und Vertrauen sich mir als Street Art Künstler gegenüber zu öffnen,
dabei geht spezieller Dank an C215.
Herzlich danken möchte ich auch Esther Banz, Florianne Rinderknecht, Evitixia Bibassis und Richard Hay für die anregenden Interviews und Babette Bürgi für ihre unschlagbaren kulturwissenschaftlichen Tipps.
Nicht zuletzt richtet sich mein Dank auch an meine Eltern für ihren unerschütterlichen Glauben an mich.

1. EINLEITUNG

Subversion ist hipp und trendy, Graffitis gelten als Beschmutzung von Wänden und Gegenständen, zugleich wertet Street Art ganze Stadtquartiere auf und wird zu hohen Preisen gehandelt. Die Masterarbeit basiert auf der gegenwartsbezogenen These, dass es für die Bewohner von Städten immer schwieriger wird, sich soziale Räume physisch und mental nach den jeweilig eigenen Vorstellungen anzueignen. Die Strukturen der urbanen Räume werden durch immer stärker regulierte Bauvorschriften bestimmt. Partizipation in städtebaulicher Planung ist durch kollektive Initiativen möglich, der Spielraum dafür ist aber meist relativ gering. Die sogenannte Gentrifizierung verändert auch die Stadt Zürich. Seit den Angriffen auf die Türme des World Trade Centers am 11. September 2001 prägen verstärkte Sicherheitsvorschriften öffentliche Räume. Private Inszenierungen in der städtischen Öffentlichkeit müssen sich zunehmend rechtfertigen.2 Nach den Anschlägen in New York wurde von der amerikanischen Regierung der politische Leitsatz „Zero tolerance“ formuliert, welcher global null Toleranz gegenüber potentielle Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit forderte.3 Die Schweizer Architektin Elisabeth Blum behandelt in ihrem Buch „Schöne neue Stadt“ genau diese Frage, nämlich wie der „Sicherheitswahn die urbane Welt diszipliniert“. Darin weist die Autorin darauf hin, dass „Sicherheit” nach dem 11. September 2001 zum höchsten schützenswerten Ziel ernannt wurde, welchem alle andere Interessen untergeordnet werden müssen und mit der Weiterentwicklung von Überwachungstechnologien weltweit umgesetzt wurde. Nach Blum kann im Grunde nur mit radikalen Gegenkonzepten ein Wandel bewirkt werden, mit dem diese totalitären Entwicklungen aufgehalten werden können. Konzepte etwa wie die der
Street Art, welche über gesellschaftliche (Wieder)aneignungen des öffentlichen Raumes den eingeschlagenen Weg re-formieren wollen, können im Sinne von Blum als eine solche Möglichkeit verstanden werden. Mit unauthorisierten Raumaneignungen versuchen die Aktivisten und Künstler öffentlich auf die Ausweitung von
2 Vgl. Krusche et al., 2008, 118.3 Vgl. Blum, 2003, 49.6
repressiven Praktiken unter dem Deckmantel der „Sicherheit“ aufmerksam zu machen und sich dagegen zur Wehr zu setzen.4 Während der letzten zwei Jahre näherte ich mich als Forscherin dem Untersuchungsgegenstand
Stencil Art und dem Werk des Street Artists C215 an, indem ich Ausstellungen und Events in Galerien, Museen und im öffentlichen Raum innerhalb von Zürich, Paris (Musée de la Poste) und London besucht habe (Erkundung des Stadtteils Shoreditch, dessen öffentlicher Raum reich an Stencil und Street Art Werken ist). In den unterschiedlichen Städten begegnete ich Street Art in grundverschiedenen räumlichen Kontexten. Während ich in London im Jahr 2013 und 2014 an zwei geleiteten Street Art Touren durch den öffentlichen Raum teilnehmen konnte, bei denen jeweils selbst in der Street Art beziehungsweise im Umfeld von Graffiti
tätige Künstler unter anderem Werke von C215 vorstellten, besuchte ich in Paris im Jahr 2012 eine Gruppenausstellung, welche Werke von den bekanntesten Street Artist der Gegenwart ausstellte, unter anderem von Banksy und C215. Als Forscherin setzte ich mich bereits filmisch mit der symbolischen Raumaneignung des iranisch stämmigen Künstlers Navid Tschopp in Zürich auseinander. Als Einzelperson eignete er sich mit einem Schriftzug „Resistance“ symbolisch den sozialen Raum eines sogenannten Nagelhauses in Zürich West an. Mit dem Schriftzug lenkte der Künstler die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner und auf die Diskrepanz zum gegenüber liegenden Luxushotel „Renaissance“.
Zu den aufgezeichneten Daten dieser Masterarbeit zählt neben transkribierten und empirisch gesammelten Daten auch ein visueller Teil. Mit der Fotokamera wurde eine Momentaufnahme der Street Art des Künstlers C215 im Zürcher Kreis 4 eingefangen. Die Zeitdauer der fotografisch erfassten Schablonenportraits umfasst April bis September 2014. Territorial erstreckt sich das fotografierte Gebiet von der heutigen Europaallee bis zum Kasernenareal über die Bäckeranlage bis zum Gebäude der Galerie STARKART an der Brauerstrasse.
4 Vgl. ganzer Abschnitt Blum, 2003,132.7
Abbildung 1: Pony – Stencil Catherine Eisendle 8

2. FRAGESTELLUNG UND ZIELSETZUNG DER ARBEIT

Die vorliegende Arbeit ist das Produkt intensiver Auseinandersetzung mit der urbanen Kunstform Street Art und indbesondere Stencil Art. Mit Interviews, Feldaufenthalten, einem Wahrnehmungsspaziergang mit dem Street Artist C215, fotografischer Dokumentation von Street Art in Zürich5 und mit einem selbst angefertigten Stencil meiner Katze „Pony“ (siehe Abbildung 1) näherte ich mich dem Forschungsthema an. Die Kombination dieser Methoden erbrachte ein mehrperspektivisches und weites Bild des Feldes in Zürich im Hinblick auf die
entsprechenden Erkenntnisinteressen. Dichte Beschreibung der Feldaufenthalte und der Wahrnehmungsspaziergänge, Fotografien und die Mitarbeit in der Ausstellung „Stencil Bastards 3“ in der STARKART Galerie runden die gewählte Methodologie ab. In der Ausstellung „Stencil Bastards 3“ integrierte ich mich in die Schutzräume der Künstler und konnte zudem auch die Entstehung von Street Art Werken von C215 in der Stadt Zürich begleiten. Während dieses Arbeitsprozesses haben sich folgende Interessensschwerpunkte herauskristallisiert: Inwiefern werden die öffentlichen Räume am Beispiel des urbanen Zentrums von Zürich angeeignet und mit den gesetzten Zeichen neucodiert? Welche Bedeutung hat die öffentliche und virtuell Rezeption der Werke und wie werden Standorte und Oberflächen gewählt? Zudem interessiert das Phänomen der plötzlichen Steigerung des ökonomischen Wertes von Kunst im Stil der Street Art und die Auswirkungen dieser neuen Eigenschaft eines Konsumgutes mit der ursprünglichen konsumkritischen politischen Haltung. Diese drei Fragestellungen ergeben den roten Faden der Arbeit und werden nach einer kulturwissenschaftlichen Themeneinführung und methodischen Erläuterung anhand von theoretischen und empirischen Daten diskutiert.
5 Nämlich C215 Street Art in der Stadt Zürich, die Street Art Schichten auf der Fassade der Galerie STARKART und Impressionen der Street Art Aktion in der Europaallee im Frühjahr 2014.
9

2.1 Aufbau der Arbeit

Im weiteren Verlauf des Kapitel 2 wird die forschungsleitende Kategorie dieser Arbeit des sozialen dynamischen Raumes und dazu die arbeitstechnisch ebenso wichtige kulturwissenschaftliche Wende des sogenannten „Spatial Turn“ kurz vorgestellt. Im Anschluss wird das methodische Vorgehen der teilnehmenden Beobachtung, die Begleitung der Akteure während des künstlerischen Schaffens, der Wahrnehmungsspaziergang und die leitfadenorientierte Interviewführung näher ausgeführt. Im Kapitel 3 wird der historische Kontext der beiden unterschiedlichen kulturellen Phänomene Street- und Stencil Art umrissen. Danach werden vier grundsätzliche Begriffe Graffiti, Street Art, Stencil Art und Urban Art für ein vertieftes Verständnis von Street – und Stencil Art erläutert.
Im Kapitel 4 werden die beiden Raumkonzepte vorgestellt, mittels denen das gesammelte Material analysiert und mit welchen eine theoretische Rahmung zur Thesengewinnung erhalten wurde. Dabei handelt es sich um Michel Foucaults Heterotopiebegriff und Martina Löws relationaler Raumsoziologie. Das Kapitel 5 präsentiert die Auswertung der in Kapitel 2 vorgestellten fachintern etablierten qualitativen Forschungsmethoden, mit welchen die Schablonenzeichen in unterschiedlichen räumlichen Kontexten untersucht wurden. Die Resultate der Triangulation werden ausführlich beschrieben: teilnehmende Beobachtungen in einer Urban Art Galerie (Kapitel 5.1), Wahrnehmungsspaziergänge im öffentlichen Raum (Kapitel 5.2.) und über Experteninterviews (Kapitel 5.3.) mit Leitfäden wurden zehn verschiedene Blickwinkeln auf Schablonenzeichen festgehalten. 6 im Kapitel 6 werden die Ergebnisse dieser Masterarbeit in einer dreiteiligen Schlussabhandlung zusammengefasst und diskutiert. 6 Die methodische Literatur zur Umsetzung qualitativer Forschung stammt von Uwe Flick und von Reiner Keller – insbesondere für die gewählten Methoden der Situationsanalyse und dichten
Beschreibungen und für die Auswertung der Experteninterviews (siehe Kapitel 5).
10

2.2 Relationaler und dynamischer Raumbegriff als forschungsleitende Kategorie

Diese Masterarbeit soll einen alltagskulturellen Beitrag zur qualitativen Raumforschung leisten. Die Dimension Raum wird aus einer subjektbezogenen Perspektive kulturanalytisch untersucht. Wenn gleich es kunsthistorische empirische Studien über Street Art im Kreis 4 gibt,7 existiert nach wie vor ein Bedarf an kulturwissenschaftlicher Forschung, welche jene Prozesse in den Blick nimmt, die Graffiti bis heute als strafrechtlich zu verfolgende Verschandelung des öffentlichen Raumes konstruieren und demgegenüber Street Art als trendige Kunstform produzieren, mit der Geld generiert und öffentliche Räume aufgewertet werden. Neben Aktivisten, die ihre Berufung als Writer oder Street Artists ausschliesslich als anonyme, illegale und nicht kommerzielle Tätigkeit verstehen, gibt es seit den 2000er Jahren vermehrt Akteure, die Künstlerkarrieren im Feld der Street Art planen und diese Berufung so umsetzen, dass sie davon leben können. Der Künstler Banksy und Shepard Fairey sind zwei der weltweit populärsten Sprayer, die mit Schablonen Zeichen in öffentlichen Räumen setzen und ihre Berufung zum Beruf gemacht haben. Die Selbstorganisation der Künstler nimmt bei solch kommerziell erfolgreichen Street Art Künstlern eine zentrale Stellung ein. Eine systematische Mediennutzung wie die digitale Fotografie und die Multiplizierung dieser Bilder im virtuellen Raum, ist genauso grundlegend wie die Zusammenarbeit mit Galeristen und Journalisten. Forschungsleitende Kategorie der vorliegenden Arbeit ist die Vorstellung sozialer dynamischer Räume. In den letzten drei Jahrzehnten hat die Kategorie Raum in sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten an Bedeutung gewonnen. Seit den 1980er Jahren nennt man in der Kulturwissenschaft und Geschlechterforschung die raumbezogene Wende auch „Spatial Turn“. Diesem raumbezogenen Perspektivenwechsel liegt die These zugrunde, dass der Kategorie des Raumes in der Kulturwissenschaft bis anhin zu wenig Bedeutung beigemessen und (soziale) Räume ungenügend in ihrer Vielfalt erfasst wurden. Ansätze des „Spatial Turns“ legen ihren Fokus im Anschluss an den marxistisch denkenden Henri Lefebvre auf Praktiken der Raumkonstitution. Für Lefebvre war es unerlässlich, die Erfroschung 7 Vgl. Jaccard, 2012.11
der Raumproduktion mit den gelebten sozialen Praktiken von Menschen zu verbinden. Lefebvre erkannte die Wechselwirkungen, die zwischen Raum und sozialen Beziehungen bestehen. So hielt er fest, dass die Kategorie Raum für die Herstellungen sozialer Beziehungen essentiell ist und im Gegenzug die Produktion von Raum immer auch sozial konstruiert wird. Das Arbeiten mit realen Dimensionen von Raum ist dabei genauso wichtig wie das Miteinbeziehen imaginärer räumlicher Dimensionen. Auch eine disziplinenübergreifende Verwendung der Raumperspektive ist essentiel für die neue Leitkategorie Raum in kulturwissenschaftliche Forschungen. Im Kontext einer globalisierten Welt und dem eingangs erwähnten verschärften Sicherheitsdiskurs seit dem 11. September 2001 ist die Auseinandersetzung mit dynamischen sozialen Räumen für die Kulturwissenschaft bis heute ein brennendes Thema geblieben.8
Im Sinne des „Spatial Turns“ soll das Phänomen der Stencil Art in seiner räumlichen Dimension anhand zweier verschiedener Raum-Konzepte, der Soziologin Martina Löw und des Philosophen und Soziologen Michel Foucault, analysiert werden. Die Raumproduktion wird am Beispiel der sozialen Praxis des Sprühens von Schablonengraffitis in öffentlichen urbanen Räumen untersucht. Das Forschungsinteresse liegt darin, ausfindig zu machen, welche Bedeutungen in die unterschiedlichen räumlichen Kontexte mit den Schablonenzeichen eingeschrieben werden und inwiefern auf einer symbolischen Ebene durch das Sprühen mit
Schablonen Raum besetzt werden kann. Auch der virtuelle Raum soll dabei mitgedacht werden. Die Wirkungen der Schablonenzeichen in öffentlichen Räumen sind stets abhängig von den vorgefundenen räumlichen Strukturen, die selbst nicht fix sind. Die auf lokaler Ebene hinterlassenen Schablonenspuren werden von den Künstlern und ihren Fans fotografiert und meist so schnell wie möglich in das weltumspannende Internet gestellt. In sozialen Netzwerken finden diese fotografischen Abbilder von Interventionen in lokale und urbane Raumverhältnisse mit Klicks Anerkennung. Dadurch werden die Bilder schnell und global verbreitet und mit vielfältigen weiteren Bedeutungen aufgeladen. Drei ausgewählte kulturwissenschaftliche Abhandlungen über Street Art dienten dieser Forschungsarbeit als Grundlagenliteratur: Julia Reineckes „Street Art. Eine 8 Vgl. ganzer Abschnitt Bachman-Medick, 2010, 291.
12
Subkultur zwischen Kunst und Kommerz“ (2007), Katrin Klitzke und Christian
Schmidts „Street Art Legenden zur Strasse“ (2009) und die im Jahre 2013
erschienene und aktuellste Publikation von Heike Derwanz „Street Art- Karrieren“.
C215 und der Galerist Roman Leu verfassten Online-Artikel zu den Phänomenen
Stencil- und Street Art, die für diese Masterarbeit aufgrund ihrer Aktualität und
unterschiedlichen Innenperspektiven bedeutsam sind.9 Diese Artikel und drei in
Zusammenarbeit mit C215 herausgebrachte Bücher 10 über sein eigenes
künstlerisches Schaffen, wurden in die Analyse gängiger Diskurse über Street und
Stencil Art in Zürich einbezogen.
2.3 Teilnehmende Beobachtungen
Räumliche Praxen gehören zu selbstverständlichen Handlungsmustern im Alltag von
Stencil Art Künstler. Teilnehmende Beobachtungen halfen weitere Erkenntnisse über
räumliche Entfaltungsmöglichkeiten dieser Kunstform zu gewinnen, die durch direkte
Befragung alleine nicht gewonnen werden können. Die teilnehmenden
Beobachtungen ermöglichten Einblicke in den Alltag von vier Künstlern der Stencil
Art Szene. Dabei wurde praktisches und diskursives Wissen generiert.
In Anlehnung an den Grounded Theory-Ansatz wurden bedeutende diskursive
Komponenten der „Stencil Bastards 3“ Ausstellung erfasst und die Verbindungen
zwischen den unterschiedlichen Interviewblöcken (Raumaneignung, Rezeptionsräume
und Sell-Out) analysiert.
Das Erforschen gegenwärtiger Verhandlungen und verschiedener Lesarten und
Diskurs-Konstellationen wurde über die persönliche Anwesenheit der Künstler C215,
Epsylon Point, L.E.T. und Hutch in der Galerie STARKART in Zürich eingefangen.
Martin Whatson ein weiterer Künstler der Gruppenausstellung, der nicht für die
„Stencil Bastards 3“ nach Zürich reisen konnte, schickte seine Werke per Post und
beantwortete mir schriftlich Interviewfragen. Strukturelle Bedeutungszusammenhänge
zwischen den Schablonenzeichen und ihrer Positionierung in unterschiedlichen
räumlichen Kontexten wurden ersichtlich. Dieser Blick auf die Herstellung und
den Verkauf von Schablonenkunstwerken in Innenräumen wurde einem Blick auf die
9 Vgl. http://starkart.org/parsen-der-urban-art-wundertute/ (Abgerufen: 10.05.2014).
10 „C215“, „C215, Community service “ und „C215, A stencil Master“
13
alltagskulturelle Produktion und Rezeption der künstlerischen Zeichen in öffentlichen
Räumen gegenübergestellt und zu einer dichten Analyse von C215 Stencil Art in
Zürich verknüpft.
2.4 Wahrnehmungsspaziergang
Im Juli 2014 wurde mit Christian Guémy (C215) ein Wahrnehmungsspaziergang
durch die Stadt Zürich unternommen auf dem der Künstler neue Werke im
öffentlichen Raum sprayte. Während des Stadtspaziergangs konnte der
Schaffensprozess des Zeichensetzers in der Wahrnehmung als begleitende Person
erfasst werden. Die Eindrücke des Wahrnehmungsspaziergangs dienen als weitere
Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfragen. Neben den visuellen
Eindrücken werden auch akustische und emotionale Eindrücke beschrieben. Ziel ist
es, den alltäglichen Raum der Stadt zu durchqueren und nicht stehen zu bleiben, um
auf besonders effektvolle Situationen zu warten. Den Raum, wie er sich in diesem
Moment zeigte, festzuhalten und nicht eine Realität zu inszenieren. Es sollte eine
gewisse „Normalität“ und nicht eine ausgesuchte Realität beschrieben werden.11
Diese Forschungsmethode zeichnet sich durch eine maximale Subjektivität aus.
Diese Subjektivität und die Beschränkung auf den Blick des Forschers eröffnet eine
gezielte Möglichkeit der Wahrnehmung dessen, was für die Forschung wesentlich
erscheint. Unter den verschiedenen Ausdrucksformen von Street Art,12 die während
des Spaziergangs im Kreis 4 wahrgenommen wurden, lag das Hauptaugenmerk auf
Zeichen und Werken, die von C215 mit Schablonen hergestellt worden waren. Dabei
entstanden Fotos die C215s Street Art in Zürich dokumentieren. Die Fotografien
zeigen neun Stencils von Menschenportraits und ein Schablonenwerk einer Katze.
Nicht nur die Motive, die Farben und der mehrschichtige Aufbau der Kunstwerke
waren von Interesse, sondern auch die räumlichen Situationen, in die der Künstler
seine Werke anordnete. In diesem Sinne wurde versucht Martina Löws
handlungstheoretisches Raumkonzept – indem sie Raum als „relationale (An-)
Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten“ versteht – auf der Ebene der
Fotografie sichtbar zu machen.13 Mit Fotos wurden Momentaufnahmen von
11 Vgl. Krusche et al., 2008, 105.
12 Wie zum Beispiel Stickers oder auf Wände gekleisterte Bilder
13 Vgl.: http://www.archiv-des-ortes.ch/index.php?seite=13 (Abgerufen am 6.05. 2014).
14
konkreten räumlichen Situationen im Kreis 4 produziert, welche einen Zugang zur
alltäglichen räumlichen Wahrnehmung liefern. Jede Abbildung von C215 Zeichen ist
natürlich nur eine Auswahl und somit eine künstliche Inszenierung des öffentlichen
Raumes. Die Fotografie ist in ihrer Repräsentation dadurch genauso symbolisch wie
C215 in seiner Raumaneignung, denn diese Form der Dokumentation ist durch das
hegemoniale System kulturell codierter Wahrnehmungs- und Repräsentationsweisen
beeinflusst. Dennoch vermitteln die Fotos auf einen Blick wie die Anordung der
Zeichen von C215 relational mit den Menschen und den räumlichen Strukturen im
Kreis 4 zusammenhängen. Die Fotos halten flüchtige Zeichen fest und zeigen, wie
sich das Private im Öffentlichen manifestiert. Gerade der Akt des Festhaltens durch
die Fotokamera erhält in diesem Forschungskontext eine hohe Bedeutung, weil sich
Street Art durch eine zeitliche Endlichkeit auszeichnet. Die Werke können jederzeit
entwendet oder übermalt werden, weshalb die Fotografie als Manifestierung der
Existenz des Werkes fungiert und damit den Moment des kurzfristigen räumlichen
Arrangements einfriert.
2.5 Experteninterviews
Die Methode der Leitfadeninterviews ist geeignet, um einen Zugang zu individuellen
Sinnzuschreibungen und subjektiven Bedeutungen zu erarbeiten. Das Experteninterview
bietet sich speziell dort an, wo der Zugang zum sozialen Feld eher
geschlossen ist.14 Der Zugang zu Street Art Künstlern ist gegenüber Aussenstehenden
begrenzt, da aufgrund der Illegalität gewisser Street Art eine Öffnung den
„falschen“ Leuten gegenüber rechtliche Konsequenzen mit sich bringen könnte. Über
den Galeristen Roman Leu erhielt ich jedoch einen Einlass ins Feld der „Stencil
Bastards“ und konnte dadurch mit vier Schablonengraffiti Künstlern in der Galerie
Interviews führen. Der Street Art und Stencil Art Künstler Martin Whatson
beantwortete mir per Email die Interviewfragen. Als teilnehmende Beobachterin und
ethnografische Forscherin hat mir der Zugang zum Feld eine Integration in die
Mikrowelt der Street Art Künstler ermöglicht, die für das Gelingen meiner Analyse
essentiell war.
14 Bogner et al., 2009, 8.
15
Bei den international erfolgreichen zeitgenössischen Stencil Art Künstlern handelte
es sich um den Franzosen C215, den Deutschen L.E.T., den Briten HUTCH, den seit
dreissig Jahren als Schablonenkünstler tätigen Franzosen Epsylon Point und den
Norweger Martin Whatson. Neben den fünf Street Art Künstlern wurden
Leitfadeninterviews mit der freischaffenden Journalistin Esther Banz, einer
Mitarbeiterin des Jugendtreffs des Kreis 4 Florianne Rinderknecht, der
Kulturwissenschaftlerin und Ausstellungsmacherin Evtixia Bibassis, einem Street Art
Fan und dem Galeristen der Urban Art Galerie STARKART Roman Leu geführt. Die
Interviewleitfäden hatten als gemeinsame Ausgangslage die Street Art von C215 im
öffentlichen Raum des Zürcher Kreis 4 und die Gruppenausstellung „Stencil Bastards
3“ der STARKART Galerie.
Die zehn Akteure wurden in einem Zeitraum von sechs Wochen (vor, während und
nach der Ausstellung) befragt. Über die flexible und offene Erhebung mit zehn leicht
unterschiedlichen Leitfäden (siehe Anhang) konnte der subjektiven Sicht und
Einschätzungen der Befragten, Raum gegeben werden. Leitfadeninterviews
bestehen im Gegensatz zu starren und standardisierten Formen der Befragung aus
offen formulierten Fragen und diskussionsanregenden Thesen. Im vorliegenden Fall
bewegten die Fragen als Erzählstimuli die drei Gesprächspartnerinnen und sechs
Gesprächspartner zum längeren freien Erzählen. Ein Interviewpartner beantwortete
die Fragen schriftlich. Alle zehn Interviewpersonen wurden über ihre persönlichen
Erfahrungen mit Stencil- und Street Art befragt. In den Interviews mit Frau Banz,
Rinderknecht, Bibassis und Herrn Hay waren Fotos von C215s Werken im Kreis 4
ein unterstützender Faktor. Die Fotos erlaubten Fragen bezüglich einer möglichen
emotionalen Wirkung der Schablonen zu stellen, welche über alleinige sprachliche
Befragung geringere Erzählbereitschaft hätte auslösen können. Die Fotos fungierten
wie bei der Interviewmethode der Foto-Elicitation als Erzählangreger und
ermöglichten eine flüssige Gesprächsatmosphäre. Die anderen Interviewpartner
kannten als Zeichenproduzenten der Street Art die Werke von C215 so gut, dass
keine Fotos als Erzählstimuli nötig waren.
16

3. “ZEICHEN SETZEN MIT SCHABLONEN”: Historischer Kontext
und zentrale Begriffe
Das Zeichen setzen mit Schablonen ist eine uralte einfache Kommunikationsform
und Reproduktionstechnik. Genauso ist das Markieren von Wänden mit Schablonen
in der Geschichte der Menschheit eine altbewährte Strategie der symbolischen
Aneignung von Raum. In der Altsteinzeit verwendeten Menschen ihre eigenen Hände
als Schablonen und gestalteten damit ihre Höhlenräume.15 Im Laufe der Geschichte
wurde der öffentliche Raum in vielfältiger Weise von den jeweilig herrschenden
Interessensgruppen (Stakeholdern) geprägt. Seit der Antike bis heute war die
Schablone auch als Technik der Dekoration von Textilien und Möbeln verbreitet.16
In Europa wurde sie im Mittelalter insbesondere zu einem wichtigen Instrument für
die Gestaltung von Kirchenwänden. Der Jugendstil und Art Deco brachten die
Entwicklung und Verfeinerung der Methode zur Wende des 20. Jahrhunderts voran.
In Frankreich nutzte man handkolorierte Metallschablonen als Pochoirs17 für Poster,
deren Anfertigung sich sehr kosten- und zeitintensiv gestaltete. In Russland
verbreiteten sich zur Zeit der Revolution Ende der 1910ner Jahre eine wichtige neue
Ausdruckform: Sowjetische Propaganda Plakate. Die bunten Drucke wurden von
Avantgardekünstlern mittels Lithografie produziert und in leerstehenden Fabriken an
die Fenster geklebt. Mit Schablonen hergestellte Wandzeichen wurden im 20.
Jahrhundert für die Raumaneignung verschiedenartiger politischer Begehren im
öffentlichen Raum eingesetzt. Auch die Nationalsozialisten wussten auf diese Weise
ihre Propaganda zu verbreiten. Unter grösster Lebensgefahr kommentierten
Antifaschisten und Pazifisten wiederum diese Zeichen. Erst in den 1930er Jahren
bildete sich das Verfahren des Siebdrucks heraus. Diese neue Vervielfältigungsmöglichkeit
für Kunstwerke wurde in den späten 50er und 60er Jahren auch für
Design extrem populär. Die kreativen Einfälle von Warhol und Rauschenberg hoben
den Siebdruck schliesslich empor in die Welt der modernen Kunst.1968 verbreitete
die Schablone das Symbol einer neuen Generation subversiver Menschen, der
eingekreiste Buchstaben „A“. Bis heute prägt das anarchistische „A“ weltweit als
bekanntestes Protestsymbol das Verständnis einer Gegenöffentlichkeit.
15 Vgl. Klitzke et al. 2006, 34.
16 Vgl. ganzer Abschnitt Klitzke et al. 2006, 37.
17 Französisches Wort für Schablone
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